Sie treten überraschend bereits in der Sommersession zurück. Fliehen Sie vor dem Abwärtstrend Ihrer Partei?
Nein, keinesfalls! Die 11 Jahre im Nationalrat waren eine bereichernde
Zeit. Nun möchte ich mich ausserhalb der Politik auf mein soziales
Engagement für Menschen in Not konzentrieren. Ich bewerbe mich am 30.
Juni um einen Sitz im Rotkreuzrat, nachdem ich bereits seit 2011
Präsidentin des Zürcher Kantonalverbands bin. Insofern trete ich zum
richtigen Zeitpunkt zurück – umso mehr, als die Zürcher CVP festgelegt
hat, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter in Bern nicht länger als
drei Legislaturen bleiben sollen. Von Flucht kann also keine Rede sein.
Trotzdem
bringen Sie Ihre Partei damit in Schwierigkeiten: Im Kanton Zürich
tritt auch Kathy Riklin 2019 nicht mehr an. Die CVP könnte beide Zürcher
Sitze im Nationalrat verlieren.
Ich gehe über ein Jahr vor den nationalen Wahlen, damit sich mein
Nachfolger Philipp Kutter etablieren und 2019 als Bisheriger antreten
kann. Ich zweifle nicht daran, dass er als bekannter Politiker
erfolgreich sein wird. Ob es der CVP gelingen wird, den zweiten Sitz zu
halten, ist schwierig abzuschätzen. Wenn sich die Partei als urbane
liberal-soziale Kraft positioniert, wird ihr dieser Sitz nicht zu nehmen
sein. Im Kanton Genf hat die CVP bei den Kantonsratswahlen vor einem
Monat bewiesen, dass mit einer solchen Politik Sitzgewinne möglich sind.
Der
CVP drohen bei den Wahlen 2019 Sitzverluste in existenziellem Ausmass.
Müsste sie in anderen Kantonen auch auf den liberal-sozialen Kurs
setzen?
Es liegt an der nationalen Parteileitung, Sitzverluste bei den Wahlen
2019 zu verhindern. Die CVP ist eine Volkspartei. Sie hatte schon immer
zwei Flügel – das war lange ihr Erfolgsrezept. Diese Unterschiede, die
historisch im Zusammenschluss von CSP und CVP begründet liegen, habe ich
in den Kantonen immer als Chance und nicht als Defizit gesehen.
Parteichef Gerhard Pfister tut das Gegenteil: Er führt die CVP zurück auf einen stramm konservativen Kurs. Ein Fehler?
Auch wenn ich Gerhard Pfister persönlich gut mag: Ich verheimliche
nicht, dass mir der heutige Kurs der CVP das politische Leben erschwert.
Anfang der 2000er-Jahre war die liberal-soziale Ausrichtung offizielles
Parteiprogramm. Die heutige Parteispitze will jedoch primär in den
Stammlanden Wähler zurückholen und hat dazu einen
konservativ-bürgerlichen Weg eingeschlagen, mit dem ich mich kaum
identifizieren kann.
Der Erfolg der neuen Strategie bleibt bisher aus. Die CVP hat seit den letzten Wahlen in den Kantonen dramatisch verloren.
Ich
bin überzeugt, dass in den urbanen Regionen ein Wählerpotenzial
brachliegt, das eine liberal-sozial ausgerichtete CVP abholen könnte –
und damit Wähleranteile gewinnen. Es ist ein strategischer Entscheid,
wie die Parteileitung mit diesem Potenzial umgeht. Mit dem aktuellen
Kurs wird dies meines Erachtens nicht gelingen. Ich bin überzeugt, dass
wir bei den nächsten Wahlen gewinnen könnten, wenn der liberal-soziale
Flügel stärker miteinbezogen würde.
In den Städten ist in der Mitte aber die GLP stark. Braucht es dort die CVP überhaupt noch?
Die Zürcher CVP hat 2007 mit ihrem Wahlerfolg bewiesen, dass in
städtischen Regionen ein Bedürfnis nach einer Politik da ist, die
liberale mit sozialen Grundwerten verbindet. Nach einer Politik also,
welche die Eigenverantwortung und den solidarischen Einsatz für
Benachteiligte verbindet. Gerade bei finanzpolitischen Fragen darf der
Mensch nicht zu kurz kommen. Die GLP ist tendenziell grüner und weniger
sozial unterwegs.
Die neue innerparteiliche Gruppierung, die Christlichsoziale Vereinigung (CSV), könnte dieses Wählerpotenzial abholen.
Ich werde die CSV sicher unterstützend begleiten und finde es
grossartig, dass sie durch die Initiative der Parteileitung entstanden
ist. Diese Unterstützung werde ich selbstverständlich auch ausserhalb
des Nationalrats leisten, unabhängig von meinem Rücktrittsentscheid. CVP
und CSV werden voneinander profitieren können.
«Polarisierung und Populismus gehen Hand in Hand und sind zurzeit ein weltweites Phänomen.»
Mit
einer islamkritischen Leitkulturdebatte will Pfister wieder Wähler
gewinnen. Welche Rolle muss die Religion heute in der CVP spielen?
Die Werte der Christdemokratie in ganz Europa leiten sich aus der
christlichen Soziallehre ab. Die Achtung des Menschen steht dabei im
Zentrum, was im Grundsatz auf alle Konfessionen und Religionen zutrifft.
Deshalb haben wir in Zürich auch viele Mitglieder, die keiner
Konfession oder einer anderen Religion angehören.
Die christliche Religion zu betonen, ist also der falsche Weg?
Heute fühlen sich parteiintern viele Muslime verunsichert. Vor bald 20
Jahren wollte sich die CVP vom katholisch-konservativen Image lösen, um
die Menschen als moderne Kraft der Mitte unabhängig von ihrer Religion
anzusprechen. Dies halte ich für den richtigen Weg, der gerade in einer
globalisierten Welt weiter verfolgt werden sollte.
In kaum einer Partei wird so leidenschaftlich gestritten wie in der CVP. Die Flügelkämpfe machen diese Partei doch auch aus.
Natürlich, das macht eine Zentrumspartei aus: Wir legen an Argumenten
zu, wenn wir unsere Differenzen hart ausdiskutieren. Das ist eine
Bereicherung. In der Politik entscheidet letztlich immer die Mitte. Dort
muss der Kompromiss gefunden werden. Umso wichtiger ist es, dass beiden
Flügeln Sorge getragen wird. Ich bin ein grosser Fan der
christdemokratischen Bewegung, die in Europa die soziale Marktwirtschaft
etabliert hat. Es braucht auch in der Schweiz dieses politische
Bindeglied zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Und trotzdem verliert die Mitte immer mehr Wähler.
Polarisierung und Populismus gehen Hand in Hand und sind zurzeit ein
weltweites Phänomen. Ich bin jedoch überzeugt, dass der Wert des
konstruktiven Diskurses wieder mehr erkannt werden wird, da Tendenzen zu
den politischen Extremen noch nie Erfolg gebracht haben. Gerade in
unserem direktdemokratischen System sind der Polarisierung Grenzen
gesetzt. Die Mitte wird eines Tages wieder stärker werden – sofern sie
sich auf ihre interne Vielfalt zurückbesinnt.
Sie sind eine
Vertreterin der CVP-Frauen. Deren Präsidentin Babette Sigg beklagte
unlängst, die Frauen würden heute in der Partei zu wenig gehört.
Frustriert Sie das ebenfalls?
Die CVP-Frauen sind traditionell progressiver als die Männer in der
Partei. Die Frauensektion befürwortet zum Beispiel eine
Nachregistrierungspflicht von Waffen, die vor 2008 erworben wurden. Den
Frauen ist auch eingefahren, dass ausgerechnet CVP-Ständeräte im März
die Lohngleichheitsvorlage zurückgewiesen haben. Wichtig ist, dass die
CVP-Frauen weiterhin ihre eigenständigen Positionen vertreten dürfen.
Gerade in der Familienpolitik haben sie seit Jahren erfolgreich Lösungen
zuhanden der Gesamtpartei erarbeitet.
Sie begründen Ihren
Rücktritt auch mit dem Rechtsrutsch im Parlament. Es treffe zunehmend
Entscheidungen, die Ihren Überzeugungen zuwiderlaufen. Zum Beispiel?
Bei all den Sparvorlagen vergessen die bürgerlichen Parteien heute
oftmals die Menschen, die davon betroffen sind. Viele können sich zum
Beispiel nicht mehr vorstellen, wie Betroffene mit ihren
Ergänzungsleistungen zu leben haben. Da nehme ich mich nicht aus. Oder
dann die Pläne, dass Lehrpersonen Kinder von Sans-Papiers anzeigen
sollen. Kinder können nichts dafür, wenn ihre Eltern keine gültigen
Papiere haben. Es bereitet mir auch Sorgen, dass im Parlament Stimmen
salonfähig geworden sind, welche die Todesstrafe fordern. Ich bin
überzeugt, in der jetzigen Situation ausserhalb des Parlaments mehr
bewirken zu können.
Trotz der Widerstände: Was bleibt Ihnen in guter Erinnerung?
Da gibt es viel! Die politische Knochenarbeit im Hintergrund etwa, in
der ich Mehrheiten für meine Überzeugungen fand. Oder die
Freundschaften, die ich über Parteigrenzen hinweg geschlossen habe. Und
schliesslich, dass ich beispielsweise bei der Cyberkriminalität und beim
Schutz von Kindern, die ihre Eltern pflegen müssen, politische
Pionierarbeit geleistet habe.
Umfrage
Würde die CVP mit einem sozialliberalen Kurs bei den Wählern besser fahren?
- Ja, damit hätte die Partei bessere Karten 64.9%
- Nein, Pfister macht das einzig Richtige 35.1%
2369 Stimmen