Donnerstag, 3. Mai 2018

Schmid-Federer tritt zurück

Sie treten überraschend bereits in der Sommersession zurück. Fliehen Sie vor dem Abwärtstrend Ihrer Partei?
Nein, keinesfalls! Die 11 Jahre im Nationalrat waren eine bereichernde Zeit. Nun möchte ich mich ausserhalb der Politik auf mein soziales Engagement für Menschen in Not konzentrieren. Ich bewerbe mich am 30. Juni um einen Sitz im Rotkreuzrat, nachdem ich bereits seit 2011 Präsidentin des Zürcher Kantonalverbands bin. Insofern trete ich zum richtigen Zeitpunkt zurück – umso mehr, als die Zürcher CVP festgelegt hat, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter in Bern nicht länger als drei Legislaturen bleiben sollen. Von Flucht kann also keine Rede sein.

Trotzdem bringen Sie Ihre Partei damit in Schwierigkeiten: Im Kanton Zürich tritt auch Kathy Riklin 2019 nicht mehr an. Die CVP könnte beide Zürcher Sitze im Nationalrat verlieren.
Ich gehe über ein Jahr vor den nationalen Wahlen, damit sich mein Nachfolger Philipp Kutter etablieren und 2019 als Bisheriger antreten kann. Ich zweifle nicht daran, dass er als bekannter Politiker erfolgreich sein wird. Ob es der CVP gelingen wird, den zweiten Sitz zu halten, ist schwierig abzuschätzen. Wenn sich die Partei als urbane liberal-soziale Kraft positioniert, wird ihr dieser Sitz nicht zu nehmen sein. Im Kanton Genf hat die CVP bei den Kantonsratswahlen vor einem Monat bewiesen, dass mit einer solchen Politik Sitzgewinne möglich sind.

Der CVP drohen bei den Wahlen 2019 Sitzverluste in existenziellem Ausmass. Müsste sie in anderen Kantonen auch auf den liberal-sozialen Kurs setzen?
Es liegt an der nationalen Parteileitung, Sitzverluste bei den Wahlen 2019 zu verhindern. Die CVP ist eine Volkspartei. Sie hatte schon immer zwei Flügel – das war lange ihr Erfolgsrezept. Diese Unterschiede, die historisch im Zusammenschluss von CSP und CVP begründet liegen, habe ich in den Kantonen immer als Chance und nicht als Defizit gesehen.

Parteichef Gerhard Pfister tut das Gegenteil: Er führt die CVP zurück auf einen stramm konservativen Kurs. Ein Fehler?
Auch wenn ich Gerhard Pfister persönlich gut mag: Ich verheimliche nicht, dass mir der heutige Kurs der CVP das politische Leben erschwert. Anfang der 2000er-Jahre war die liberal-soziale Ausrichtung offizielles Parteiprogramm. Die heutige Parteispitze will jedoch primär in den Stammlanden Wähler zurückholen und hat dazu einen konservativ-bürgerlichen Weg eingeschlagen, mit dem ich mich kaum identifizieren kann.

Der Erfolg der neuen Strategie bleibt bisher aus. Die CVP hat seit den letzten Wahlen in den Kantonen dramatisch verloren.
Ich bin überzeugt, dass in den urbanen Regionen ein Wählerpotenzial brachliegt, das eine liberal-sozial ausgerichtete CVP abholen könnte – und damit Wähleranteile gewinnen. Es ist ein strategischer Entscheid, wie die Parteileitung mit diesem Potenzial umgeht. Mit dem aktuellen Kurs wird dies meines ­Erachtens nicht gelingen. Ich bin überzeugt, dass wir bei den nächsten Wahlen gewinnen könnten, wenn der liberal-­soziale Flügel stärker miteinbezogen würde.

In den Städten ist in der Mitte aber die GLP stark. Braucht es dort die CVP überhaupt noch?
Die Zürcher CVP hat 2007 mit ihrem Wahlerfolg bewiesen, dass in städtischen Regionen ein Bedürfnis nach einer Politik da ist, die liberale mit sozialen Grundwerten verbindet. Nach einer Politik also, welche die Eigenverantwortung und den solidarischen Einsatz für Benachteiligte verbindet. Gerade bei finanzpolitischen Fragen darf der Mensch nicht zu kurz kommen. Die GLP ist tendenziell grüner und weniger sozial unterwegs.

Die neue innerparteiliche Gruppierung, die Christlichsoziale Vereinigung (CSV), könnte dieses Wählerpotenzial abholen.
Ich werde die CSV sicher unterstützend begleiten und finde es grossartig, dass sie durch die Initiative der Parteileitung entstanden ist. Diese Unterstützung werde ich selbstverständlich auch ausserhalb des Nationalrats leisten, unabhängig von meinem Rücktrittsentscheid. CVP und CSV werden voneinander profitieren können.
«Polarisierung und Populismus gehen Hand in Hand und sind zurzeit ein ­weltweites Phänomen.»
Mit einer islamkritischen Leitkulturdebatte will Pfister wieder Wähler gewinnen. Welche Rolle muss die Religion heute in der CVP spielen?
Die Werte der Christdemokratie in ganz Europa leiten sich aus der christlichen Soziallehre ab. Die Achtung des Menschen steht dabei im Zentrum, was im Grundsatz auf alle Konfessionen und Religionen zutrifft. Deshalb haben wir in Zürich auch viele Mitglieder, die keiner Konfession oder einer anderen Religion angehören.

Die christliche Religion zu betonen, ist also der falsche Weg?
Heute fühlen sich parteiintern viele Muslime verunsichert. Vor bald 20 Jahren wollte sich die CVP vom katholisch-konservativen Image lösen, um die Menschen als moderne Kraft der Mitte unabhängig von ihrer Religion anzusprechen. Dies halte ich für den richtigen Weg, der gerade in einer globalisierten Welt weiter verfolgt werden sollte.

In kaum einer Partei wird so leidenschaftlich gestritten wie in der CVP. Die Flügelkämpfe machen diese Partei doch auch aus.
Natürlich, das macht eine Zentrums­partei aus: Wir legen an Argumenten zu, wenn wir unsere Differenzen hart ausdiskutieren. Das ist eine Bereicherung. In der Politik entscheidet letztlich immer die Mitte. Dort muss der Kompromiss gefunden werden. Umso wichtiger ist es, dass beiden Flügeln Sorge getragen wird. Ich bin ein grosser Fan der christdemokratischen Bewegung, die in Europa die soziale Marktwirtschaft etabliert hat. Es braucht auch in der Schweiz dieses politische Bindeglied zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.

Und trotzdem verliert die Mitte immer mehr Wähler.
Polarisierung und Populismus gehen Hand in Hand und sind zurzeit ein ­weltweites Phänomen. Ich bin jedoch überzeugt, dass der Wert des konstruktiven Diskurses wieder mehr erkannt werden wird, da Tendenzen zu den politischen Extremen noch nie Erfolg gebracht haben. Gerade in unserem direktdemokratischen System sind der Polarisierung Grenzen gesetzt. Die Mitte wird eines Tages wieder stärker werden – sofern sie sich auf ihre interne Vielfalt zurückbesinnt.


Sie sind eine Vertreterin der CVP-Frauen. Deren Präsidentin Babette Sigg beklagte unlängst, die Frauen würden heute in der Partei zu wenig gehört. Frustriert Sie das ebenfalls?
Die CVP-Frauen sind traditionell progressiver als die Männer in der Partei. Die Frauensektion befürwortet zum Beispiel eine Nachregistrierungspflicht von Waffen, die vor 2008 erworben wurden. Den Frauen ist auch eingefahren, dass ausgerechnet CVP-Ständeräte im März die Lohngleichheitsvorlage zurückgewiesen haben. Wichtig ist, dass die CVP-Frauen weiterhin ihre eigenständigen Positionen vertreten dürfen. Gerade in der Familienpolitik haben sie seit Jahren erfolgreich Lösungen zuhanden der Gesamtpartei erarbeitet.

Sie begründen Ihren Rücktritt auch mit dem Rechtsrutsch im Parlament. Es treffe zunehmend Entscheidungen, die Ihren Überzeugungen zuwiderlaufen. Zum Beispiel?
Bei all den Sparvorlagen vergessen die bürgerlichen Parteien heute oftmals die Menschen, die davon betroffen sind. Viele können sich zum Beispiel nicht mehr vorstellen, wie Betroffene mit ihren Ergänzungsleistungen zu leben haben. Da nehme ich mich nicht aus. Oder dann die Pläne, dass Lehrpersonen Kinder von Sans-Papiers anzeigen sollen. Kinder können nichts dafür, wenn ihre Eltern keine gültigen Papiere haben. Es bereitet mir auch Sorgen, dass im Parlament Stimmen salonfähig geworden sind, welche die Todesstrafe fordern. Ich bin überzeugt, in der jetzigen Situation ausserhalb des Parlaments mehr bewirken zu können.

Trotz der Widerstände: Was bleibt Ihnen in guter Erinnerung?
Da gibt es viel! Die politische Knochenarbeit im Hintergrund etwa, in der ich Mehrheiten für meine Überzeugungen fand. Oder die Freundschaften, die ich über Parteigrenzen hinweg geschlossen habe. Und schliesslich, dass ich beispielsweise bei der Cyberkriminalität und beim Schutz von Kindern, die ihre Eltern pflegen müssen, politische Pionierarbeit geleistet habe.

Umfrage

Würde die CVP mit einem sozialliberalen Kurs bei den Wählern besser fahren?
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